Was ist Befreiungspsychologie?
"Haben wir uns jemals ernsthaft gefragt, wie Psychologie aus der Perspektive der Unterdrückten aussehen könnte…? Haben wir jemals daran gedacht, die Arbeitspsychologie aus der Perspektive der Arbeitslosen und die klinische Psychologie aus der Perspektive der Ausgegrenzten zu betrachten?..." Es geht dabei nicht darum, für sie zu denken oder ihnen unsere Ideen zu bringen oder ihre Probleme für sie zu lösen; es geht darum, mit ihnen und aus ihrer Perspektive zu denken und Theorien zu entwickeln." (Ignacio Martín-Baró SJ)
Der Theologe, Sozialpsychologe und Jesuit Ignacio Martín-Baró SJ entwickelt in den 1970er und 80er Jahren in El Salvador eine von den Grundideen der Befreiungstheologie inspirierte "Psychologie der Befreiung". Er kritisiert eine apolitische Psychologie, die sich unkritisch in den Dienst bestehender politischer Machtstrukturen stellte. " Im Hinblick auf Traumaarbeit fordert er, dass der Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen gerichtet wird, die traumatisieren, anstatt Opfer politischer Gewalt mit der Diagnose "traumatisiert" zu pathologisieren.
Martín-Barós Anspruch an eine neue Psychologie ist radikal politisch, und er bezahlt ihn mit seinem Leben: Am 16. November 1989 wird er zusammen mit fünf anderen Jesuiten und zwei Frauen von der salvadorianischen Regierungsarmee hingerichtet.
Befreiungspsychologisch inspirierte PsychologInnen und TherapeutInnen – und ich zähle mich dazu – wollen nicht das durch Gewalt und Menschenrechtsverletzungen ausgelöste Leid von Menschen auf innerpsychische Prozesse reduzieren. Sie sehen das Trauma vielmehr im Kontext politischer und sozialer Strukturen. So verstanden braucht es deshalb nicht nur psychologische Therapie von "Opfern", sondern auch soziopolitische Veränderungen, die teilweise ebenfalls zur genuinen Arbeit von PsychologInnen gehören.
Konkret bedeutet der Anspruch der Befreiungspsychologie in meiner Berufspraxis:
- Ich arbeite in Projekten, die einen politischen Anspruch von Traumaarbeit vertreten, insbesondere im Bereich von Geschlechtergerechtigkeit und gegen Gewalt gegen Frauen. Dabei bin ich als Feministin besonders an der Überwindung der Folgen patriarchaler Unterdrückungsstrukturen für beide Geschlechter interessiert, denn auch Männer erleben patriarchal begründete Gewalt und leiden unter zementierten Geschlechterbildern.
- Ich habe mich spezialisiert auf psychologische Forschung im Rahmen von psychosozialen Projekten, die auf Partizipation und Empowerment der Menschen zielen: Mit Methoden und in Settings, in denen Menschen durch die Forschung stärkende Bewußtseinsprozesse erfahren, vor Belastung und Retraumatisierung geschützt werden, und in denen sie unmittelbar von den Forschungsergebnissen profitieren, zu denen sie wesentlich beitragen.
- Ich richte in meiner Arbeit als Trainerin meinen Fokus auf die Vermittlung von psychosozialen Inhalten für Menschen mit wenig oder keiner formalen Schulbildung. Damit will ich auch den politische Anspruch einer gerechten psychosozialer Bildung verwirklichen und Bewusstwerdungsprozesse initiieren, die Menschen stärkt, sich für die Veränderung ihrer sozialen und politischen Verhältnisse einzusetzen.
- Ich arbeite therapeutisch mit einer "Option für die Ausgegrenzten": insbesondere mit von Verfolgung, Marginalisierung und Armut betroffene Gruppen. Psychische Gesundheit für alle ist in meinen Augen ein Menschenrecht und kein Luxus. Deshalb biete ich Psychotherapie auch zu anderen Tarifen als sonst üblich an und für einige Gruppen auch kostenlos.
- Ich binde als Theologin und Befreiungspsychologin in meiner Arbeit dort, wo der Kontext es nahelegt, spirituelle Dimensionen in die Traumaarbeit mit ein. Eine befreiende Spiritualität ist für mich nicht konfessionell gebunden. Sie ist auch nicht (nur) Innerlichkeit, sondern vielmehr ermächtigende Quelle für jegliches soziales und politisches Engagement.
Wenn Sie mehr über Befreiungspsychologie wissen möchten, empfehle ich Ihnen zum Einstieg einige meiner Artikel, die Sie auf der homepage herunterladen können.